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DPSG Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg Diözesanverband Paderborn

Grün statt Braun: Fahrt ins Grüne Bericht 2022

28. November 2022 (von: tanja)

„Wer ist das?“ Die 14jährige hält ein kleines, gerahmtes Bild eines Kleinkindes in Händen. Sie spricht leise. Die anderen Jugendlichen, die um sie herum stehen und den alten Koffer betrachten, halten inne. „Wir kennen ihren Namen nicht“, erklärt Referentin Sarah Kass. Ob dieses Kind deportiert wurde, auch in Theresienstadt ermordet wurde oder den Holocaust überlebte, ist der Historikerin nicht bekannt. Das unbekannte Kind auf dem Bild – was hat es erlebt?

Der sogenannte „Museumskoffer“ mit persönlichen Gegenständen, Fotos, und Briefen aus Konzentrationslagern steht auf dem Tisch im großen Festsaal der Wewelsburg. Alte Kinderschuhe, eine kleine Menora, Bücher, eine winzige Puppe finden sich in diesem Koffer. Drum herum stehen Jugendliche, ein Teil der etwa 250 Pfadfinder*innen, die am dritten Novemberwochenende die Gedenkstätte Wewelsburg in Büren besuchten. Jedes Jahr im November steht die „Fahrt ins Grüne“ der Pfadfinderstufe im Kalender. Dieses Jahr ging es aber nicht um Pfadfindertechniken, Lagerfeuer oder handwerkliche Workshops, sondern – zum zweiten Mal nach 2009 – um die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Der Museumskoffer war dabei Teil eines Workshops zum Thema „Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur“. Die Perspektive der Opfer in den Fokus zu rücken, um nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Schicksale erfahrbar, greifbar machen, war das Ziel. Wenn man in die Gesichter der Jugendlichen schaute, wurde dieses Ziel – in pädagogisch-wissenschaftlicher Sprache „Förderung von Empathiefähigkeit“ genannt – ganz sicher erreicht. Eine Teilnehmerin sprach von der kleinen Puppe, die sie besonders beeindruckt habe. „Man hat direkt das Kind vor Augen, das alles zurücklassen musste, wenn man weiß, dass dieses kleine Spielzeug das einzige war, was nach der Deportation ins KZ von ihrem alten Leben übrig blieb.“


Die Gedenkstättenfahrt bot aber nicht nur die Möglichkeit, der menschenverachtenden Ideologie der Nazis „von damals“ auf die Spur zu kommen. Die pädagogischen Angebote schlugen den Bogen von der Nazizeit zum heutigen Alltag. Workshops zu eigenen kulturellen Vorurteilen und Rollenspiele gegen Diskriminierung wurden ebenso angeboten wie das Argumentieren gegen rechte Parolen. Eine Ausstiegs-Beraterin erzählte gemeinsam mit zwei ehemaligen, mittlerweile ausgestiegenen Anhängern der rechten Szene sehr anschaulich davon, wie Menschen sich immer noch von Nazis blenden lassen und allein kaum wieder aus diesem Umfeld herausfinden. „Schaut euch diese Bilder an“, forderte die Workshopleiterin die Jugendlichen auf und zeigte Fotos aus Nazi-Jugendorganisationen. „Diese Zeltlager-Situationen – das kennt ihr auch. Ihr wisst, wie sich diese Zusammengehörigkeit im Sommerlager anfühlt. Könnt ihr nachvollziehen, dass Jugendliche sich davon angezogen fühlen, wenn sie in Kontakt mit der Szene kommen?“ Die kurze Bitte, sie nicht für die Dokumentation der Fahrt ins Grüne zu fotografieren, damit ihre Anonymität gewahrt bleibt, brachte die Gefährlichkeit der rechten Szene eindrücklich auf den Punkt.

Die 14 bis 16jährigen hatten sich in ihren Gruppenstunden bereits vor der Fahrt in Grüne auf das schwierige Thema vorbereitet. Daten und Fakten zur Nazizeit standen dabei genauso auf dem Plan wie Gedankenspiele, Selbsterfahrungen und Reflektion eigener Vorurteile. „Es fühlte sich so unfair an“, erzählt eine Teilnehmerin von der Gruppenstunde zwei Wochen vor der Fahrt, in der die Jugendlichen willkürlich nach bestimmten Merkmalen eingeteilt und mit völlig ungleichen Aufgaben herausgefordert wurden. „Wir konnten gar nichts dagegen tun.“ Ausgrenzung hautnah spüren – diese Erfahrung hing vielen der Pfadis nach. „Es war uns sehr wichtig, dass die Jugendlichen nicht unvorbereitet in das Wochenende hinein stolpern“, erklärt Paul vom Pfadi-DAK. „Die Vorbereitung in den Gruppenstunden mithilfe unserer Materialsammlung im Netz war daher obligatorisch. Dass die Leitenden der Stämme so mitgezogen haben, war ein großer Erfolg unseres Konzepts.“ Begeistert von der Vielfalt des Workshop-Angebots war Alana aus Hohenlimburg. „Ich war vormittags im Workshop „Der Rosa Winkel. Blockierte Aufarbeitung?“ und habe nachmittags am Workshop zur „Jugendverbandsarbeit im Nationalsozialismus“  teilgenommen. Es gab so viele unterschiedliche Sachen, ich hätte gerne noch viel mehr mitgekriegt“. Einen Einblick in einen ganz besonderen Workshop gab es dann am Samstag Abend. Eine Gruppe Jugendlicher brachte kurze Auszüge aus dem Musikdrama „Die Kinder der toten Stadt“ auf die Bühne und beeindruckte mit dem Mut, Lieder zu singen, die vielen die Tränen in die Augen trieben.

Ein weiterer Erfolg des Wochenendes war die gelungene Balance zwischen der herausfordernden Arbeit am Thema und dem Kennenlernen, Zeit miteinander verbringen und Spaß haben. Lisa vom DAK erinnert sich an die Planungszeit und einige Diskussionen. „Wir haben uns gewünscht, die typischen Elemente der Fahrt ins Grüne wie den „Grünen Teppich“ oder die Party zu integrieren. Gerade für die Jüngeren war das wichtig, ein bisschen Dampf abzulassen nach der Workshoparbeit.“ Aber natürlich wurde die Frage „Können wir bei dem Thema überhaupt eine Party machen?“ in der Vorbereitung diskutiert. „Aber das war im Grunde einer der schönsten Momente des Wochenendes. Am Samstagabend haben alle zusammen über die Grenzen des eigenen Stammes hinweg eine tolle Zeit gehabt. Die Jugendlichen und auch die Leitenden haben als große Gruppe zusammen gefeiert.“ Dem stimmt auch Jamie aus Rüthen zu. „Die Party war toll, wir haben echt nette Leute kennengelernt!“

Was bleibt nach dem dem Wochenende? Die Nachbereitung in den Stämmen läuft. Neben den Führungen durch die Gedenkstätte und das Museum Wewelsburg war für alle Leitenden der Workshop „Sprachfähigkeit in der Gruppenstunde“ Pflicht. Wie bereiten wir das Wochenende nach? Wie komme ich mit den Jugendlichen ins (weitergehende) Gespräch? Welche Methoden bieten sich an, um sich in der Gruppe mit Diskriminierung auseinander zu setzen? Viel Input und viele Ideen für die Leitenden im gesamten DV Paderborn, die sich der Aufgabe stellen, die Jugendlichen gegen Rechtsextremismus zu stärken. „Wir werden nach einer gründlichen Reflektion in der nächsten Gruppenstunde die Stolpersteine in unserem Ort putzen“, haben sich David und Timon mit ihren Pfadis vorgenommen. Erinnern, immer wieder. Denn auch wenn wir 80 Jahre später keine Schuld mehr tragen an den Gräueltaten der Nazizeit, so tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung, es nie wieder so weit kommen zu lassen.